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Räume der Unterdrückung. Neue Geschichtswissenschaftliche und archäologische Forschungen zu den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern am Erzbergwerk Rammelsberg im Harz

Ein kurzer Überblick zur Quellenlage – aus dem aktuellen ForschungsprojektRäume der Unterdrückung

Von Bernd Wehrenpfennig und Johannes Großewinkelmann

Das oben genannte Projekt begann bereits am 01.10.2021. Während der kommenden zwei Jahre wollen Archäologen und Historiker gemeinsam das System der Zwangsarbeit unter den Nationalsozialisten am Rammelsberg interdisziplinär untersuchen.
Bereits in den 1990er Jahren wurden im Rahmen eines Oral-History-Projekts die Aussagen zahlreicher ukrainischer Zeitzeugen aufgearbeitet, was zu zwei Publikationen und einem Ausstellungsteil in der Dauerausstellung des Weltkulturerbes Rammelsberg führte.[1] Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse zu den Einzelschicksalen insbesondere der „Ostarbeiter“ am Erzbergwerk Rammelsberg im Zweiten Weltkrieg, sollen in diesem Forschungsprojekt die authentischen Orte und Räume, an und in denen Frauen und Männer vor fast 80 Jahren unter menschenverachtenden Umständen zur Arbeit gezwungen wurden, wohnen und leben mussten, in den Mittelpunkt gerückt werden.
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges waren in fast jedem Ort des Dritten Reiches neben Kriegsgefangenen-Arbeitskommandos auch zivile Zwangsarbeiter aus ganz Europa, und hier zahlenmäßig vor allem „Ostarbeiter“, in Kriegs- und Landwirtschaft beschäftigt, was von enormer ökonomischer Bedeutung war. Geprägt war der Arbeitseinsatz durch mitunter brutalste Behandlung, Unterernährung und schlimmste Arbeitsbedingungen. Das System der Zwangsarbeit, welches von der Wehrmacht, der Zivilverwaltung und den Arbeitgebern betrieben wurde, ist aus der Sicht der Täter, bislang wenig erforscht worden. Daher steht die Forschung zur Verwaltung der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in den Betrieben, in der Landwirtschaft oder im Handwerk, noch am Anfang. Doch gerade dieses System bestimmte einen Großteil der Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Christian Streit hat mit seinem Buch „Keine Kameraden“ eine Vorreiterrolle bei der Erforschung dieser Perspektive am Beispiel der sowjetischen Kriegsgefangenen eingenommen.[2] Dabei stützte er sich notgedrungen vor allem auf Quellen der jeweiligen Führungsebenen aus Staat und Wirtschaft. Die Situation der Kriegsgefangenen wurde dabei, laut Streit quellenmäßig bedingt, kaum behandelt.
Längere Ausführungen zum Arbeitseinsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern finden sich in den Studien von Ulrich Herbert und Hubert Speckner, welche die o.g. Problematik aber nicht umfassend behandeln.[3] In relativ großer Zahl wurden in den letzten drei Jahrzehnten lokale und regionale Studien zur Zwangsarbeit, zu Konzern und Werksgeschichten veröffentlicht, die ebenfalls nur wenige Informationen zum System der Verwaltung und dessen Einfluss auf das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter enthalten.[4] 
Gleiches gilt für die große Studie von Hans Mommsen und Manfred Grieger über das Volkswagenwerk.[5] Darüber hinaus muss konstatiert werden, dass in der vorhandenen Literatur nicht immer klar zwischen den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, zwischen den verschiedenen Ethnien denen sie angehörten und zwischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, zumal denen aus dem Osten, unterschieden wird.
Was die sowjetische, beziehungsweise russische Geschichtsschreibung betrifft, so liegen nur wenige Werke vor, die das Schicksal sowjetischer Bürger in den deutschen Zwangsarbeiterlagern behandeln. Dies dürfte nicht zuletzt den Befehlen 270 und 227 Josef Stalins, des uneingeschränkt regierenden sowjetischen Diktators geschuldet sein. Ersterer wurde am 16.08.1941 erlassen und erklärte jeden gefangengenommenen Rotarmisten zum „niederträchtigen Deserteur“, der seine Heimat verraten habe und dessen Angehörige festzunehmen seien. Zweiterer, datiert vom 28.07.1942, bedrohte jeglichen Rückzug mit dem Tode, was als Druckmittel auf die Rotarmisten angewendet wurde.[6] Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands wurden 5,5 Millionen Menschen, Kriegs- und Zwangsarbeiter, in die Sowjetunion repatriiert (ins Land zurückgelassen), von denen ungefähr ein Fünftel umgehend liquidiert oder zu langen Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt wurden. Hinzu kamen ungezählte Selbstmorde.[7] Noch bis 1992 beinhalteten sowjetische Personalfragebögen Fragen zum Aufenthaltsort jeden Einwohners und seiner Familienangehörigen während des Großen Vaterländischen Krieges (Zweiten Weltkriegs). In ihre vollen Rechte wurden die Betroffenen erst wieder am 24.01.1995 durch Präsidentenerlass eingesetzt.[8] Es ist nicht verwunderlich, dass sich im Nachkriegsrussland die Historiker mit dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter bislang kaum auseinandergesetzt haben, trugen diese doch das Stigma des Vaterlandsverräters.[9]  
Bleiben die Publikationen zur deutschen Bevölkerung und hier im speziellen zur niedersächsischen Landbevölkerung. Hier ist vor allem die Studie über bäuerliche Verhaltensweisen von Beatrix Herlemann zu nennen, die sich ausführlich mit dem Verhältnis von einheimischer Landbevölkerung und in der Landwirtschaft beschäftigten Ausländern und Kriegsgefangenen auseinandersetzt.[10] Oder die Studie von Raimond Reiter, der sich mit Frauen in Niedersachsen während des Dritten Reiches auseinandersetzt, aber nur wenig über Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern schreibt.[11]
Augenfällig ist, dass der Großteil der genannten Literatur die Ebene der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Kriegswirtschaft und Landwirtschaft, ihre durch deutsche Täter bestimmten Lebens- und Arbeitsbedingungen, kaum erreicht. Gleiches gilt für die Ebene der Beziehungen und Verhältnisse zwischen Landbevölkerung und Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.
Und wie sieht es am Erzbergwerk Rammelsberg aus? Durch die zwei Reisen von Bernhild Vögel in die Ukraine liegen uns Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern vor, mit deren Aussagen wir die Quellen der Zwangsarbeiterverwaltung des Erzbergwerks Rammelsbergs bzw. der der übergeordneten Unterharzer Berg- und Hüttenwerke GmbH konfrontieren können.

Um hier ein Beispiel zu nennen. Ein immer wiederkehrender Punkt in den Interviews war der ständige Hunger der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen, die ohnehin auf der nationalsozialistischen Rassenleiter auf der untersten Stufe standen, wohingegen die betrieblichen Quellen stets die Verpflegung als reichlich und gut bezeichnen.

Dennoch erklärt in einer Quelle vom 30.07.1942 der Ostarbeiter Benjamin Rjabuschenko einem Deutschen gegenüber in gebrochenem Deutsch: „Deutscher Kamerad mehr Brot, mehr Fleisch, mehr Kartoffeln, mehr Arbeit. Wir Kameraden Kohl und Wasser, keine Kraft!“ Das Ganze wurde dem Ostarbeiter als „Verächtlichmachung unserer Werksküche“ ausgelegt. Zur Strafe wurde die warme Verpflegung für einige Tage entzogen.[12] Am 17.08.1942 heißt es in der Todesbescheinigung des Ostarbeiters Pjotr Pianow lapidar: „Pilzvergiftung. Hat angeblich Pilze und Vogelbeeren gegessen, ist innerhalb von vier Stunden gestorben.“[13] Und am 24.08.1942 heißt es in einer weiteren Quelle: „Trotzdem die Verpflegung im Lager Oker z.B. gut und reichlich ist […] beschaffen sich die Ostarbeiter laufend andere „Nahrungsmittel“. So hat eine Kontrolle ergeben, daß sich die Ostarbeiter von dem Misthaufen Kaffee-Ersatz (von dem einige mehrere Pfunde auf einmal gegessen haben) und faule Kartoffeln, die für das Schweinefutter nicht mehr geeignet waren, mitgenommen haben, um diese im Lager noch zu kochen. Bei der durchgeführten Kontrolle wurde eine große Karre voll dieser Abfälle den Ostarbeitern abgenommen. Daß durch diese verdorbenen Lebensmittel zumal in der heißen Zeit Vergiftungen die Folge sind, ist erklärlich.“[14] Diese drei kurzen Beispiele bezüglich Hunger versus gute und reichliche Verpflegung dürften für sich selbst sprechen. 

Für das laufende Projekt geht es nun darum, sich diese Quellen aus der Feder der Verwaltung, der Täter, zu erschließen und mit historischen Quellen zu konfrontieren, die zur Analyse der Einzelschicksale z.T. schon in den 1990er Jahren ausgewertet wurden.

Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie so etwas aussehen kann. Wichtig ist es zu berücksichtigen, dass Verwaltungssprache eine Sprache der Verschleierung, der Kälte, der Herzlosigkeit, der Unmenschlichkeit ist. Es ist eine Sprache, „die nicht meint, was sie sagt, und nicht sagt, was sie meint. (…) Verharmlosung und Verrohung verbinden sich zu einer Sprache des Uneigentlichen.“[15] Die Sprache versteckt die Wahrheit hinter Worten, die harmlos klingen und doch das Schicksal der Betroffenen auf menschenverachtendste Weise bestimmen. In einer Mitteilung der Unterharzer Berg- und Hüttenwerke GmbH, der Betreiberin des Erzbergwerks Rammelsberg, vom 18. Juli 1944 an das Arbeitsamt in Goslar heißt es zur Unterbringung von an Tuberkulose erkrankten „Ostarbeitern“: „Da wir bei unseren im Aufbau befindlichen Lagern keine Möglichkeit haben, die Kranken genügend zu isolieren und daher eine Übertragung der Krankheit auf gesunde Arbeitskräfte durch Ansteckung befürchtet werden muß, bitten wir, von dort aus zu veranlassen, dass uns die Ostarbeiter in kürzester Zeit abgenommen werden.“[16]

Dieses Zitat veranschaulicht die kalte Sprache der Verwaltungsanweisung, in der deutlich wird, dass nicht „einsatzfähige“, todkranke „Ostarbeiter“ als wirtschaftliche Belastung angesehen wurden, die dem Bergwerk „abgenommen“ werden sollten. Das Schicksal dieser Menschen war den zuständigen Verantwortlichen völlig egal. Können wir über die Einzelschicksale dieser Tuberkolosekranken mehr herausfinden oder müssen wir uns mit den Informationen aus den Verwaltungsakten zufriedengeben? Das Forschungsprojekt versucht Antworten auf solche Fragen zu finden!

 


Abb.: Sterbeurkunde eines erst 19jährigen russischen Zwangsarbeiters des Erzbergwerks Rammelsberg vom 13. April 1944. Die Sterbeurkunde enthält so wenige Angaben zur Herkunft, dass die von der deutschen Verwaltung zugeschriebene Bedeutungslosigkeit des Schicksals dieses jungen Menschen kaum deutlicher zu fassen ist. 

[1]Vögel, Bernhild: „Wir waren fast noch Kinder“ – die Ostarbeiter vom Rammelsberg, Goslar 2003; dies: System der Willkür. Betriebliche Repression und nationalsozialistische Verfolgung am Rammelsberg und in der Region Braunschweig, Goslar 2002.

[2]Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978.

[3]Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1985; Speckner, Hubert: In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der Ostmark 1939-1945, München 2003.

[4]Fiedler, Gudrun; Ludewig, Hans-Ulrich (Hrsg.): Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft im Lande Braunschweig 1939-1945, Braunschweig 2003.

[5]Mommsen, Hans; Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.

[6]Overy, Richard: Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Hamburg 2002, S. 373-374.

[7]Merridale, Catherine: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945, Frankfurt/M. 2006, S.384.

[8]Müller, Klaus-Dieter: Die Tragödie der Gefangenschaft und der Sowjetunion 1941-1945, Köln 1998, S. 22..

[9]Osterloh, Jörg: Sowjetische Kriegsgefangene 1941-1945 im Spiegel nationaler und Internationaler UntersuchungenMüller, Klaus-Dieter: Die Tragödie der Gefangenschaft und der Sowjetunion 1941-1945,  Dresden 1995, S. 52.

[10]Herlemann, Beatrix:: „Der Bauer klebt am Hergebrachten“: Bäuerliche Verhaltensweisen unterm Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen, in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 39, Niedersachsen 1933-1945, Bd. 4, Hannover 1993. 

[11]Reiter, Raimond: Frauen im Dritten Reich in Niedersachsen: Eine Dokumentation, in: Frauen in Geschichte und Gesellschaft, Bd. 33, Pfaffenweiler 1998.

[12]Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg: BGG-Archiv, Akte Ostarbeiter Allgemein, Russische Zivilarbeiter, Quelle vom 30.07.1942.

[13]Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg: BGG-Archiv, Akte Ostarbeiter Allgemein, Todesbescheinigung, Quelle vom 17.08.1942.

[14] Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg: BGG-Archiv, Akte Ausländer Bestimmungen 1, Ostarbeiter, Quelle vom 24.08.1942.

[15] Mathias Döpfner, „Besprechung mit Frühstück“. Wie kann es sein, dass die Ermordung der europäischen Juden in neunzig Minuten bei Kaffee und Cognac beraten wurde ? Der ZDF-Film „Die Wannseekonferenz“ entlarvt die Sprache dessen, was sprachlos macht. In: Welt am Sonntag, Nr. 4, 23. Januar 2022, S. 43.

[16] Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg. BGG-Archiv. Akte Ostarbeiter 2, Abschrift „Nicht einsatzfähige Ostarbeiter“ v. 28. Juli 1944.

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