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Vom Ende zum Anfang. Auf der Suche nach der Stunde „Null“ am Ende des Zweiten Weltkriegs

Vom Ende zum Anfang. Auf der Suche nach der Stunde „Null“ am Ende des Zweiten Weltkriegs

Dr. Johannes Großewinkelmann

Die Frage, ob es eine Stunde „Null“ am Ende des Zweiten Weltkriegs gab, ist sicherlich schnell beantwortet: Es gab diese Stunde nicht. Das Leben ging einfach weiter. Doch es gab in Deutschland einen Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur in die demokratische Ordnung, vom Krieg in den Frieden, vom KZ-Häftling zum befreiten Menschen, vom Soldaten zum Zivilisten, vom Zwangsarbeiter zum `Displaced Person´, von der Ehefrau zur Witwe, vom Kind zum Kriegsopfer –  die Aufzählung ließe sich noch lange fortschreiben. Wie sah der Übergang zwischen dem Untergang der Diktatur und dem Beginn einer neuen Gesellschaft in Deutschland aus ? Dieser Übergang fand auf ganz vielen Ebenen statt, auf einer gesellschaftlichen genauso wie auf der individuellen Ebene. Ebenso vielfältig ist die Darstellung dieser Übergänge, nicht nur in der historischen Forschung, sondern auch in den Museen oder im Film.   

In den letzten Wochen sind mir parallel, aber unabhängig voneinander, mehrere Darstellungen unterschiedlicher Übergänge, die häufig mit der „Stunde Null“ beschrieben werden, aufgefallen. Eine Darstellung, bei der es sich um einen sehr individuellen Zugriff auf diese „Stunde Null“ handelt, fand ich in der Sammlung des Weltkulturerbes Rammelsberg. Vor einiger Zeit konnten Tagebücher des ehemaligen Rammelsberger Bergmanns Helmut Luft eingesehen und kopiert werden. Die Tagebücher wurden retrospektiv verfasst. Helmut Luft war zum Zeitpunkt des Verfassens bereits über 70 Jahre alt. Die Tagebücher sind deshalb als Lebenserinnerungen zu bewerten.[1]

Allerdings hat Helmut Luft schon während seiner Zeit als Soldat ein besonderes „Kriegstagebuch“ geführt. Auf dieses greift er in seinen später geschrieben Lebenserinnerungen zurück. Die Beschreibung der Kriegszeit ist deshalb von einer stärkeren Authentizität geprägt, als die Schilderung anderer Lebensabschnitte.      

Geboren 1928 in Goslar, hat Helmut Luft zwischen dem 1. April 1942 und dem 29. August 1944 eine Ausbildung zum Bergmann am Erzbergwerk Rammelsberg absolviert. Am 5. Januar 1945 wurde er als Soldat zur Wehrmacht einberufen. Zu seiner Vereidigung als Soldat am 10. Januar 1945 schreibt er in sein Tagebuch: „Vorne auf dem Podest stand ein hoher Offizier und sagte was von Endkampf und das die Feinde nun an Deutschlands Grenzen ständen. Wir Jungen sollten alle auf Flakbatterien verteilt werden. Dafür würden die älteren Soldaten für den Endkampf frei. (…) Die Jungen waren alle so 15 – 18 Jahre alt. Wir waren alle noch jung und glaubten von klein auf, was man uns sagte. (…) Wir dachten wir machen alles richtig.“[2]

Nach einer kurzen Infanterie- und Geschützausbildung wurde Helmut Luft an ein Flakgeschütz in der Nähe von Hannover abkommandiert.  


Zeichnung (2.Mai 1945) von Helmut Luft von der letzten Flakstellung, in der er als Soldat eingesetzt war.
Quelle: Helmut Luft, Tagebücher, Heft 2, S. 61. In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

Diese Flakeinheit gab am 12. April 1945 wegen der anrückenden amerikanischen Truppen ihre Stellung auf und die Soldaten setzten sich in Richtung ihrer Heimatorte in Bewegung. Helmut Luft marschierte mit sieben Kameraden aus dieser Einheit Richtung Harz. Er schreibt am 13. April 1945 in sein Tagebuch: „Nach ein paar Stunden, wir kamen an einem frisch gepflügten Acker durch, in die erste Furche legte ich meinen Karabiner, mit den Fuss Erde darüber. Die Älteren sagten, `das kannst du doch nicht machen, wenn wir nun auf Deutsche Truppen treffen.´ Ich sagte, `ich gehe nach Hause, da brauch ich keine Waffen. Wir gingen weiter, nach einer halben Stunde schmissen die anderen auch ihr Kram weg. Ich meine Gasmaske auch. Ja, da war uns schon viel leichter.“[3]

Auf dem weiteren Weg trennte sich die Gruppe und Helmut Luft ging mit einem weiteren Kameraden Richtung Goslar weiter. Auf dem Weg wurden sie häufiger angehalten und befragt. Für diese Befragungen hatten sie sich eine Notlüge ausgedacht: „Wir sagten immer dasselbe. Wir hätten beim Bauern gearbeitet in der Lüneburger, der Hof wäre abgebrannt und wollten nach Goslar.“[4]

Nach vier Tagen zu Fuß unterwegs kamen Helmut Luft und sein „Kumpel“ am 16. April 1945 über Jerstedt nach Goslar. Kurz vor Goslar wurden sie durch ehemalige französische Zwangsarbeiter bedroht und mussten mitgeführte Lebensmittel und Zigaretten abgeben. „Nur mein Messer fanden sie nicht. Das habe ich noch heute, ich benutze es jeden Tag beim Essen. Danach gingen wir durch Jerstedt, nach Goslar, es war schon dunkel. Es war Ausgangsverbot. Also auf Umwege weiter. (…) Beide über den Zaun und wir standen auf dem Hof. Es war genau 20.00 Uhr. Ich klopfte und klingelte ein paarmal, dann rief Klaus (sein Bruder, J.G.) von oben `wer ist denn da´. Ich sagte, `hier ist Helmut´. Klaus war damals 4 Jahre alt. Er sagte `Helmut ist nicht da, der ist bei der Flak´. Dann kam meine Mutter runter und ließ uns rein. Alle waren froh, dass ich wieder da war und ich auch. Meine Mutter machte Bratkartoffeln und wir beide hauten rein wir hatten ja den ganzen Tag noch nichts gegessen.“ (…) Ich wollte den ganzen Tag auf dem Sofa liegen. Man durfte sowieso nicht raus. Die Tommys (englische Soldaten, J.G.) fuhren überall Streife. Ich war ja praktisch ein Fahnenflüchtiger. Es war ja immer noch Krieg. Am 3. Tag bin ich dann doch aufgestanden. Meine Eltern sagten, dass Goslar schon am 10. April besetzt wurde. Mittag um 13 Uhr ist der Feind von Astfeld kommend in Goslar eingerückt. Zur gleichen Zeit rückten die letzten (deutschen, J.G.) Soldaten und der Volkssturm durchs Wintertal in den Harz.“[5]

Nachdem Helmut Luft in seinem Tagebuch noch einige Anmerkungen über den weiteren Verlauf des Krieges in der Region macht, beschreibt er die familiäre und seine persönliche Situation beim Übergang von der Kriegs- in die Friedenszeit: „Ja bei uns zu Hause war es gar nicht einfach. Wir hatten ja (…) keine Lebensmittelkarten. Es gab tagelang nur was mit Kartoffeln. Ausgang war von 11.00 bis 12.00 Uhr. Meine Mutter ging dann immer zum Kaufmann, wenn es was gab. Anfang Mai ging ich mit zum Einwohnermeldeamt wegen der Neuen Marken. Ich habe in der ersten Zeit viel gezeichnet. Meistens aus unserer Stellung  (Flakstellung, J.G.) bei Neuloh. Habe die Bilder hier mit ins Heft geheftet. Am 8. Mai war der Krieg vorbei. Die Sieger haben die Nacht mit Leuchtspurmuni. – und alles was knallte rumgeballert. Die Nacht konnten wir alle nicht schlafen. (…) Es war eine ganz schlechte Zeit. Aber Ende Mai ging es am Rammelsberg wieder los. Deutschland brauchte Metall für den Wiederaufbau.“ [6]


Aus der Erinnerung hat Helmut Luft dieses Bild im April 1946 von den bei einem Bombenangriff zerstörten Unterkunftsbaracken gezeichnet, in denen er als Soldat einer Flakeinheit untergebracht war.

Selbst nach über 50 Jahren muss Helmut Luft beim Schreiben der Tagebucheintragungen zu der Kriegszeit emotional sehr ergriffen gewesen sein, denn er unterbricht seine Niederschrift einmal für mehrere Wochen und schreibt am Ende des Kapitels über die Kriegszeit „Ob ich nochmal weiter schreibe weiss ich noch nicht !!!“ [7] Doch Helmut Luft setzt seine Lebenserinnerungen fort und schreibt noch weitere ca. 700 engbeschriebene DinA-5-Seiten voll.

Handschriftliche Gliederung der einzelnen Hefte des Tagebuchs von Helmut Luft.

In Vorbereitung auf einen Lehrauftrag am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover zum Thema „Montanindustrie im Nationalsozialismus. Das Erzbergwerk Rammelsberg“, den ich im Sommersemester 2020 mit Prof. Dr. Karl-Heinz Schneider durchgeführt habe, las ich die Publikation des englischen Historikers Ian Kershaw „Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45.“[8] Ian Kershaw untersucht die Endphase des Zweiten Weltkriegs unter der Frage: Warum kämpften die Deutschen bis zum bitteren Ende weiter?  Dabei betrachtet er insbesondere die Motive in den höchsten politischen und militärischen Führungskreisen, auf die in den letzten Monaten des Krieges der unbedingte Wille zum Durchhalten basierte. Ausführlich beschreibt Kershaw das Verhalten der Führungsriege um Adolf Hitler und der militärischen Führung an den verschieden Frontabschnitten in den letzten Monaten, Wochen und Tagen vor der Kapitulation. Er betrachtet damit im Gegensatz zu den oben vorgestellten Tagebucheintragungen eines einfachen, jungen Soldaten, eine ganz andere Ebene, die der verantwortlichen Täter.

Neben vielen Aspekten, die Ian Kershaw im Einzelnen erforscht, kommt er zu einem sehr grundsätzlichen Fazit in Bezug auf das Ende der Diktatur und des Krieges und damit auf die Schaffung eines neuen Anfangs: „Zuerst ist zu sagen, dass die Bevölkerung, anders als manchmal behauptet wird, nicht bis zum Ende hinter Hitler und dem NS-Regime gestanden hat. (…) Wenig spricht für die Auffassung, die `Volksgemeinschaft´ habe weiterhin Zusammenhalt stiftend und als integrative Kraft hinter den Kriegsanstrengungen gestanden. In Wahrheit hatte sich die hoch gepriesene `Volksgemeinschaft´ schon lange aufgelöst; nun galt: Es rette sich wer kann.“[9]

Doch die meisten Deutschen kämpften weiter und verlängerten damit das alltägliche Leid, denn sie wollten keine Besatzung Deutschlands und schon gar nicht durch die gefürchteten Russen.[10] Damit hielt aber auch der Terror, den das NS-Regime mit immer menschenverachtender Brutalität gegen die eigene Bevölkerung ausübte, weiter an. Der Terror des Regimes nach innen und die Furcht vor einer Besatzung zögerten das Ende deshalb so dramatisch hinaus. Als die Herrschaft des NS-Regimes in den letzten Monaten, Wochen und Tagen zusehends zerfiel, lief es Amok. Bis in die Provinzen nahmen Parteifunktionäre die Dinge mit brutalsten Mitteln selbst in die Hand und schickten unzählige Menschen zur sinnlosen Verteidigung von Dörfern, Städten oder Anlagen in den Tod.[11] 

Diese Bedingungen des lange herausgezögerten Endes bestimmten dann den Anfang der neuen deutschen Gesellschaft nach dem 8. Mai 1945 in beispielloser Weise. Eine kleine Fernsehserie mit dem Titel „Im Schatten der Mörder – Shadowplay“, die vor einigen Tagen im ZDF zu sehen war, greift diese Übergänge, die Menschen am Ende des Krieges machen mussten, anhand fiktiver Geschichten auf. Max McLaughlin (Taylor Kitsch) soll 1946 im kriegszerstörten Berlin in der amerikanischen Besatzungszone eine Polizeieinheit aufbauen. An seiner Seite steht die deutsche Polizistin Elsie (Nina Hoss) mit ihrer „Hilfstruppe“ aus unbewaffneten Frauen und alten Männern. Ziel der beiden ist es, den „Engelmacher“ (Sebastian Koch) zu Fall zu bringen, der vergewaltigten Frauen hilft und sie darüber in sein kriminelles Schwarzmarktimperium rekrutiert. Gleichzeitig will Max seinen Bruder Moritz (Logan Marshall-Green) stellen, der einen tödlichen Privatkrieg gegen entflohene Naziverbrecher führt.

Mit den Mitteln des Spielfilmgenres wird an vielen Stellen in diesem Thriller nicht nur deutlich, wie Menschen aus der Vergangenheit des NS-Regimes eine Last in die neu aufzubauende Gesellschaftsordnung mitnehmen, sondern wie auch die politischen Verhältnisse in den vier Besatzungszonen in Berlin ein Jahr nach Kriegsende noch von den Bedingungen des Kriegendes definiert werden.

Einen völlig anderen Zugang zum Thema wählten im Sommersemester die Studierenden des oben genannten Seminars an der Leibniz Universität Hannover. Durch die Bedingungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als Online-Seminar angelegt, bot sich die Chance, eine intensivere Auswertung von historischem Quellenmaterial vorzunehmen. Es wurden Monats- und Jahresberichte des Erzbergwerks Rammelsberg aus den Jahren von 1939 bis 1952 aus dem ehemaligen Betriebsarchiv der PREUSSAG ausgewertet. Die Auswertung der Berichte konzentrierte sich auf die Übergänge vom Frieden 1938 in den Krieg nach dem 1. September 1939 und auf den Übergang vom Krieg in den Frieden ab April / Mai 1945. Exemplarisch möchte ich einige Aspekte aus den Monatsberichten vom April bis Juni 1945 aufgreifen. Diese Monatsberichte verfasste der damalige Betriebsleiter Wolfgang Huber[12], seit 1937 Mitglied der NSDAP und seit Herbst 1940, nach seiner Beteiligung als Unteroffizier bzw. Feldwebel am Überfall auf Polen und Frankreich, war er Betriebsdirektor des Erzbergwerks Rammelsberg. Wolfgang Huber wurde verantwortlicher Leiter für den Ausländereinsatz, also für den Einsatz der ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen am Erzbergwerk Rammelsberg.

Die Monatsberichte richtete der Betriebsdirektor an seinen Vorgesetzten, Dr. Hans-Hermann von Scotti[13], der in der Unterharzer Berg- und Hüttenwerke GmbH als Tochtergesellschaft der PREUSSAG für den Bereich Bergwerke zuständig war. In dem Monatsbericht vom April 1945 heißt es zur Lage des Erzbergwerks Rammelsberg kurz nach Ende des Krieges[14]: „ Im Laufe des 10.4. wurde Goslar durch Einheiten der amerikanischen Armee besetzt. Die Besetzung wurde durch Auslösung von Luftlandealarm gegen 13.45 Uhr bekanntgegeben. Kurz darauf strömten größere Mengen der Bevölkerung zum Werk, um hier Schutz zu suchen für den Fall, dass Kampfhandlungen in der Stadt stattfanden. Mehrere hundert Leute wurden in der Richtschacht- und Bergeschachtstrecke sowie in den Luftschutzräumen unter Tage untergebracht. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass nennenswerte Kampfhandlungen in der Stadt nicht erfolgten, verliess die Bevölkerung zwischen 15 und 16 Uhr wieder das Werk.

Der Gruben- und Aufbereitungs- und Tagesbetrieb wurde im Laufe des 10. eingestellt. Mit einer kleinen Notbelegschaft des Maschinenbetriebes konnte jedoch während des ganzen Monats die Wasserhaltung weiterbetrieben werden, da die Stromversorgung sowohl von Oker als auch vom Oberharz her nicht unterbrochen war.“[15]

Nachdem ein Teil der einheimischen Bevölkerung den Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft mit wohlwollender Duldung der Betriebsleitung im Schutz der Grubenräume des Erzbergwerks Rammelsberg verbracht hatte, konnte der Betriebsdirektor Huber die Reaktionen einer großen Mehrheit der ausländischen Zwangsarbeiter an diesem Tag nicht verstehen. Er schreibt dazu in seinem Monatsbericht: „Grosse Schwierigkeiten entstanden durch die Ausländer. Die Stadtverwaltung hatte noch am 9.4. den Abtransport sämtlicher Ausländer angeordnet. Gleichzeitig erging durch die Kreisleitung der NSDAP der Auftrag an den unterzeichneten Werksleiter, sämtliche verfügbaren Gefolgschaftsmitglieder, insbesondere alle Ausländer, zum Bau von Strassensperren zur Verfügung zu stellen. Infolgedessen war es nicht möglich, die Fremdarbeiter abzutransportieren.“[16] Wolfgang Huber folgte hier den Anweisungen der Partei und riskierte im Angesicht der amerikanischen Besetzung das Leben der Zwangsarbeiter, in dem er diese zum Bau von Straßensperren eingesetzt hätte. Dazu kam es dann nicht mehr.

Dass die befreiten Zwangsarbeiter nach dem 10. April 1945 nicht mehr so bereitwillig den Anweisungen der Betriebsleitung folgten, notierte Huber fast schon mit Erstaunen: „Neben den rd. 330 bereits seit längerer Zeit am Werk beschäftigten Ausländer, wurden am 11. des Berichtsmonats dem Werk 440 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene zur Unterbringung und Verpflegung zugeführt. Sie wurden zunächst in der leerstehenden ehemaligen Hilfskaue untergebracht. Schon bald jedoch drangen sie (…) in das Verwaltungsgebäude ein, belegten hier sämtliche Räume und zerstörten die Büroeinrichtung sowie das Aktenmaterial nahezu restlos. Auch in den Werkstätten wurde insbesondere durch Entwendung des Handwerkszeuges grösserer Schaden angerichtet, gestohlen wurde unter anderem sämtliches vorhandene Filtertuch, rund 750 m. Außerdem verwehrten die Ausländer sämtlichen deutschen das Betreten des Werkes, sodass die Notbelegschaft grössere Schwierigkeiten bei der Erledigung ihrer Arbeiten hatte.“[17]

Aus dem Monatsbericht des Betriebsdirektors Huber wird deutlich, dass er sich der Verbrechen, die er im Rahmen der NS-Herrschaft an den ausländischen Arbeitskräften vor Ort am Erzbergwerk Rammelsberg verübt hat, in keiner Weise bewusst war. Huber bleibt bis in den Mai 1945 noch Werksleiter und muss in den Tagen nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen am 10. April in einer Situation aus plötzlich fehlender Unterstützung durch einen Parteiapparat und aus massivem Autoritätsverlust gegenüber seiner Person einen Notbetrieb des Erzbergwerks aufrecht erhalten, bis die amerikanische Militärregierung am 12. Juni 1945 die Wiederaufnahme der Erzförderung genehmigt.[18] Am 23. Juni 1945 wurde Wolfgang Huber als Betriebsdirektor des Erzbergwerks Rammelsberg von der britischen Militärregierung[19] vom Dienst suspendiert und gegen ihn ein Entnazifizierungsverfahren eingeleitet. Gleichzeitig aber griff die britische Besatzungsmacht auf die bergmännische Kompetenz des ehemaligen Betriebsleiters zurück und setzte Huber wieder als Direktionsassistenz bei den Unterharzer Berg- und Hüttenwerken ein. Nach einem über zwei Jahre sich hinziehenden Untersuchungsverfahren wurde Huber 1947 in die Kategorie II eingestuft, d.h. er galt weiterhin als belastet, als schuldiger Aktivist und Nutznießer des NS-Regimes. Insbesondere waren mit seiner Zustimmung als Betriebsdirektor drastische Strafen gegen Zwangsarbeiter verhängt worden. Das machte ihn zum Mittäter des NS-Systems. Huber zeigte weder direkt nach dem 10. April 1945, als die amerikanischen Truppen in Goslar einmarschierten, noch Jahre später Einsicht in sein verbrecherisches Handeln.

Die vorgestellten Darstellungen vom Ende des diktatorischen NS-Systems und dem Anfang einer neuen gesellschaftlichen Ordnung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, diese Suche nach der häufig als „Stunde Null“ bezeichneten Übergangsphase, hat viele Facetten gesellschaftlicher und individueller Umbrüche gezeigt. Häufig steckten sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf individueller Ebene in den Umbruchsprozessen noch Elemente des Vorhergehenden, die entscheidend nicht nur das Zukünftige, sondern auch den Weg in diese Zukunft geprägt haben. Auch deshalb wirkt die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur noch mehrere Generationen nach ihrem Ende weiter auf die Menschen ein.     


[1] Die Tagebücher wurden dem Weltkulturerbe Rammelsberg von Dieter Luft zur Verfügung gestellt. Hierfür gilt ihm ein besonderer Dank. 

[2] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 2, S.39 und 60. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg. 

[3] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 3, S. 59 f. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

[4] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 3, S. 65. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

[5] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 3, S. 67 ff. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

[6] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 3, S. 71 ff. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

[7] Helmut Luft, Tagebücher, Heft 3, S. 73. (Reproduktion) In: Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

[8] Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München 2013.

[9] Ebda., S. 527 f.

[10] Vgl. ebda., S. 528. 

[11] Vgl. ebda., 530.

[12] Wolfgang Huber, Jahrgang 1901, war in Bernburg an der Saale aufgewachsen. Er studierte nach dem Abitur in Tübingen und an der Technischen Hochschule in Berlin Bergbau. In einer schlagenden Studentenverbindung handelte sich der Student einen Schmiss am rechten Mundwinkel ein. 1928 trat er als Bergassessor bei der PREUSSAG ein. Vgl. Bernhild Vögel, „Wir waren fast noch Kinder“. Die Ostarbeiter am Rammelsberg, Goslar 2003, S. 107 f.

[13] Dr. Hans-Hermann von Scotti war in den Unterharzer Berg- und Hüttenwerken seit 1933 zuständig für die Bergwerksbetriebe. Er war seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP und übernahm von 1934 bis 1937 auch den Posten des Betriebsdirektors am Erzbergwerk Rammelsberg. Hans-Hermann von Scotti war als Mitglied der Direktion der Unterharzer Berg- und Hüttenwerke insbesondere über alle Maßnahmen zur Bestrafung von ausländischen Zwangsarbeitern informiert. Seine Unterschrift findet sich auch unter einem Schießbefehl an die Wachmannschaft des sogenannten Ostarbeiterlagers. Sie sollten sofort schießen, wenn Zwangsarbeiter ohne Berechtigung das Lager verließen. Vgl. Bernhild Vögel: „Wir waren fast noch Kinder“. Die Ostarbeiter vom Rammelsberg. Goslar 2003, S. 118.

[14] Am 10. April 1945 wurde Goslar durch amerikanische Truppen besetzt.

[15] Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg. Monatsberichte des Erzbergwerks Rammelsberg an die Unterharzer Berg- und Hüttenwerke 1939 bis 1952. Monatsbericht für den April 1945, S. 1.

[16] Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg. Monatsberichte des Erzbergwerks Rammelsberg an die Unterharzer Berg- und Hüttenwerke 1939 bis 1952. Monatsbericht für den April 1945, S. 1.

[17] Ebda., S. 1 f.

[18] Vgl. Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg. Monatsberichte des Erzbergwerks Rammelsberg an die Unterharzer Berg- und Hüttenwerke 1939 bis 1952. Monatsbericht für den Juni 1945, S. 1.

[19] Ende Mai rückten die amerikanischen Truppen aus Goslar ab und eine britische Militärregierung übernahm die Neustrukturierung und Demokratisierung aller Bereiche des zivilen Lebens im Braunschweiger Land.  

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