Jeder speichert im Laufe seines Lebens eine riesige Menge an eigenen Erinnerungen und an Geschichtserfahrungen in seinem Gedächtnis. Dabei wird die persönliche Erinnerung mit historischen Ereignissen auf eine sehr individuelle Art und Weise miteinander verknüpft. So notierte beispielsweise der Schriftsteller Franz Kafka am 2. August 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in sein Tagebuch: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.“[1] Selbst die unmittelbare Erinnerungsnotiz in einem Tagebuch vermischt Öffentliches mit Privatem, Allgemeines mit Besonderem und zeigt die Vielzahl an Varianten von Erinnerungen im historischen Kontext.
Bei der Beschäftigung mit der persönlichen Erinnerung geben entsprechende neurologische Befunde zu bedenken, dass die menschliche Erinnerung zum Flüchtigsten und Unzuverlässigsten gehört, dass es gibt. Doch gleichzeitig ist die Erinnerungsfähigkeit ein wesentliches Merkmal von dem, was Menschen erst zu Menschen macht. „Die je eigenen biographischen Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist.“[2]
Die Erinnerungen eines Menschen sind nicht austauschbar und nicht übertragbar. Jeder Mensch besitzt seine eigene Lebensgeschichte, die er aus einer spezifischen Position wahrnimmt. Doch die einzelnen Erinnerungen existieren nicht isoliert nebeneinander, sondern sind mit anderen Erinnerungen vernetzt. Dadurch wirken Erinnerungen verbindend und können Gemeinschaft erzeugen.
Nur ein kleiner Teil unserer Erinnerungen ist im Gedächtnis aufbereitet und dient zur Erzählung unserer Lebensgeschichte. Ein großer Teil der Erinnerungen „schlummert“ quasi im Verborgenen des Gedächtnisses und wird meistens erst durch einen äußeren Anlass wieder in Erinnerung gebracht. Mit Hilfe von Dingen, hat Maurice Halbwachs aufgezeigt, kann eine sinnliche Präsenz erzeugt werden, die das individuelle Erinnern aktiviert und zum Teil einer sprachlichen Aufbereitung macht. Denn für die Erinnerung bedarf es nicht nur eines Gedächtnisses, sondern auch externer Erinnerungsspeicher und dazu eignen sich besonders Dinge. Damit hat die Gegenwart der Dinge einen Anteil an der persönlichen Erinnerung.[3]
In den Nachlässen Rammelsberger Bergleute befinden sich eine Vielzahl an solchen dinglichen Erinnerungsspeichern. Ein Teil dieser Erinnerungsspeicher werden dem Weltkulturerbe Rammelsberg von den Nachfahren, den Töchtern oder im vorliegenden Beispiel, dem Sohn übergeben. Dieser Nachlass eines ehemaligen Rammelsberger Hauers, der 35 Jahre am Bergwerk gearbeitet hat, besteht zu einem großen Teil aus verschiedenen Modellen, in denen bergmännische Tätigkeiten im Maßstab 1 : 87 nachgebaut sind. Besonders auffällig ist das Modell des Rammelsberg-Schachtes mit übertägigem Fördergerüst.
In diesem Modell sind individuelle Erinnerungen der bergmännischen Arbeit am Erzbergwerk Rammelsberg kombiniert mit historischen Entwicklungsstufen bergbaulicher Technik. Entstanden ist ein persönliches „Erinnerungsmodell“, das nur in einigen Teilbereichen der historischen Realität entspricht. Auf den verschiedenen Sohlen des Grubengebäudemodells werden traditionelle und moderne Abbauverfahren vorgestellt, die in dieser Form weder zeitgleich, noch in dieser Anordnung im Grubengebäude existiert haben. Der Aufbau des Modells ist ein Einblick in die persönlichen Erinnerungsmomente, die insbesondere gekoppelt sind an die technischen Entwicklungsphasen des Bergbaus am Rammelsberg, die der Modellbauer als ehemaliger Bergmann dort erlebt hat, aber die auch nach seiner Verrentung die Modernisierung des Abbaubetriebs prägten. An einigen Stellen sind zusätzlich Szenen von Vorgängen eingesetzt, die ein weiterer Teil seiner bergmännischen Identität mit bestimmten, wie etwa die Darstellung einer Grubenwehrübung oder der offensichtliche Blick in den traditionellen Roeder-Stollen, der an dieser Stelle im realen Grubengebäude gar nicht möglich wäre.
Die Bewahrung dieses Nachlass seines Vaters zeigt die enge Verbindung auch des Sohns zur bergmännischen Arbeit, die er selbst nicht ausgeführt hat. Der Vater hat dem Sohn viel von seiner Arbeit am Erzbergwerk Rammelsberg erzählt und er hat die Modelle in Zusammenhang mit seinem Bergmannsleben gesetzt. Der Sohn gab den Nachlass an das Museum, weil er befürchtete, dass spätere Generationen die Verbindung zwischen seinem Vater und der bergmännischen Arbeit nicht mehr würden herstellen können. Diesen Verlust an lebensgeschichtlicher Erinnerung wollte er verhindern in der Hoffnung, dass die Dinge im Museum, weiterhin der Erinnerung an die Arbeit des Vaters dienen.
Dieses Beispiel verdeutlicht auf sehr anschauliche Weise, wie die Bedeutung von Gedächtnisobjekten (Andenken) sich im Familiengedächtnis wandeln, weil sie im Laufe der Zeit auf veränderte Gegenwartsbezüge treffen. Dieser Wandlungsprozess wird zudem begleitet von einem veränderten Blick der verschiedenen Generationen auf die Sprache der Dinge. Das Modell des Vaters, das dieser zur Erinnerung an seine Arbeit gebaut hatte und das als Erinnerungsspeicher auch noch für sein Sohn funktionierte, wird von den Enkeln wahrscheinlich nur noch sehr eingeschränkt interpretierbar. Deshalb soll das Museum diese Dinge in der Hoffnung übernehmen, den persönlichen Erinnerungsspeicher des Vaters zu bewahren. Das ist aber nur sehr eingeschränkt möglich. Mit der Übergabe der Andenken an das Weltkulturerbe Rammelsberg beginnt ein Prozess der bei der Weitergabe von Dingen an museale Einrichtungen immer eine Rolle spielt, die bei Objekten aus privaten Sammlungen besonders spezifisch sein kann. Objekte werden durch den Übergang ins Museum aus vormaligen Kontexten entfernt. Die vormuseale Biographie kann in der Phase der Musealisierung verloren gehen und dann nicht mehr vollständig rekonstruiert werden können.[4] Erinnerungsstücke, die ins Museum gegeben werden „mutieren dort zu Museumsobjekten und durchlaufen […] eine `kühle Transformation´ durch die jegliche subjektive Anhaftung eliminiert und für alle Zeit entfernt wird. Damit wird der `lebendige Faden´ zwischen dem Objekt und seinem Besitzer, (…) durchtrennt und der `systematischen´ Instanz des Museums überantwortet.“[5] Doch diese subjektiven Dimensionen der Dingdeutungen sollten durch die Musealisierung nicht verloren gehen, weil sie einen kulturellen und gesellschaftlichen Wert darstellen, der im musealen Raum vermittelt werden sollte.
[1] Zitiert bei: Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28, 2001, S. 17.
[2] Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 24.
[3] Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1991, S.163ff.
[4] Vgl. Nina Henning: Objektbiographien, in: Stefan Samida / Manfred K.H. Eggert / Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Weimar 2014, S. 234-237, S. 236.
[5] Udo Gößwald: Die Erbschaft der Dinge. Eine Studie zur subjektiven Bedeutung von Dingen der materiellen Kultur, Graz 2011, S.7.
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