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Industriearchitektur im Spiegel der Fotografie 1920 – 1950

Architektur ist der älteste Gegenstand der Photographie. Alle frühen Erfinder des photographischen Verfahrens wählten Gebäude als Objekte aus, denn die hielten ausreichend lange still. „Um 1870 etablierte sich (…) die Architekturphotographie in einem neuen funktionalen Kontext, der Werbung. Bilder von Bauten hatten fortan für die ästhetische Qualität von Fassaden und Ornamenten, von Applikationen und Proportionen zu werben (…).“[1] Je moderner die Architektur wurde, desto stärker konzentrierte sich der Blick der Fotografen auf die Bauvolumina. Endgültig entwickelte sich dieser Fokus in den 1920er Jahren mit der Fotografie der Moderne.

Die Fotografie der Moderne war in den 1920er Jahren mit dem Schlagwort der Neuen Sachlichkeit belegt, so wie dieses Schlagwort als Abwendung von historischer Bewegung auf alle Gebiete gestalterischen Arbeitens angewendet wurde. Sachlichkeit beeinflusste die industrielle Massenproduktion, die Wohnungsbauarchitektur, den Städtebau, das Kunsthandwerk, die Mode, die bildende Kunst und die Fotografie und den Film. Die Fotografie der Neuen Sachlichkeit ist in den 1920er Jahren, wie andere Strömungen in der Kunst und der Architektur, als Reaktion auf die Folgen des Ersten Weltkrieges zu sehen. Die Fotografie der Neuen Sachlichkeit entwickelte sich in einer Zeit der extremen Verunsicherung, einer Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, der gesellschaftlichen und kulturellen Kämpfe und Hoffnungen. Fotografie, Film und Rundfunk machten in dieser Zeit große Entwicklungen und Veränderungen mit, sorgten aber insbesondere für eine beschleunigte öffentliche Kommunikation.[2]

Als Stilrichtung der künstlerischen und angewandten Fotografie der 1920er bis 1930er Jahre spiegelte die Neue Sachlichkeit eine Haltung zum Medium Fotografie wider, die sich auf bestimmte Charakteristika des Fotografischen konzentrierte: harte Anschnitte, technische Genauigkeit bei der Aufnahme, der Entwicklung und Vergrößerungstechnik, starke Auf- und Untersichten, Gegenstandstreue sowie Detailhaftigkeit. Der Blick wird auf Oberflächen, Strukturen und Formen gelenkt, die Bildfläche wird geordnet. Die Fotografie der `Neuen Sachlichkeit´ wird durch Begriffe wie: „klar, präzise, sachlich, nüchtern, illusionslos, realistisch, objektiv, zweckmäßig, spröde, gegenstandsbezogen, puristisch, zeitlos, kalt und technisch“ [3] gekennzeichnet.

Die Neue Sachlichkeit grenzte sich klar von der Kunstfotografie ab, die sich an malerischer Formensprache orientierte und auch der experimentelle Charakter der Bauhausfotografie wurde von Vertretern der Neuen Sachlichkeit abgelehnt.[4] „Unter den Protagonisten der Neuen Sachlichkeit steht der Fotograf Albert Renger Patzsch (1897 – 1966)  wohl wie kein anderer  Künstler für das Prinzip des ordnenden Blicks. Sein stilbildendes Schaffen folgte rigoros der selbstgestellten Aufgabe, in der Fotografie dem Wesen des Gegenstandes nachzugehen. Sein 1927 erschienener Fotoband „Die Welt ist schön“ formulierte – bei allen Missverständnissen, die der Buchtitel auslösen sollte – eine Haltung zur Welt, die an eine spezifische Ästhetik der Sachlichkeit gekoppelt war. (…)“[5]

Albert Renger Patzsch definierte die Komposition seiner Bilder entsprechend: „Vor der Aufnahme ist für mich eine genaue Bildvorstellung unerläßlich. (…) Ich gehe dabei von der Wirklichkeit als Raum aus. Dieser Raum soll als Ausschnitt so beschaffen sein, daß er auf die Ebene projiziert eine geordnete Bildfläche ergibt. Er muß so beschaffen sein, daß er nicht als Ausschnitt empfunden wird; es muß durch ihn ein neuer Bildorganismus entstehen, der vom Zufälligen gänzlich befreit erscheint.“[6] Den Einfluss künstlerischer Aspekte auf die Fotografie lehnte Renger-Patzsch ab: „Überlassen wir daher die Kunst den Künstlern und versuchen wir, mit den Mitteln der Photographie Photographien zu schaffen, die durch ihre photographischen Qualitäten bestehen können – ohne daß wir sie von der Kunst borgen.“[7] Für Renger-Patzsch war Fotografie, ganz im Sinne des Bauhausansatzes, auch Handwerk.[8] Die Fotografien von Albert Renger-Patzsch sind überwiegend menschenleer oder zeigen Menschen in einer kühlen bis rein sachlichen Atmosphäre. Der Fotograf war der Ansicht, „dass der Mensch und seine Sozialrealität photographisch nicht erfaßt werden könne, weshalb er sich auf dingliche Themen konzentriere.“[9]  Jörg Boström hat die Abwesenheit von Menschen, auch in den Fotografien späterer Architekturfotografen, nicht nur als sachliche Darstellungsform bezeichnet, sondern als eine bewusste Inszenierung, in der diese Sachlichkeit zur pathetischen Überhöhung der dargestellten Architektur dienen sollte.[10] Diese Fotografien zeigen keine Produktionsbedingungen, die die Form der Architektur bestimmten: „Nichts wird(…) gezeigt über den Produktionsverlauf, die Lichtführung, nichts über die Maschinen und Handgriffe und gar nichts über den gestalteten Raum, in dem Menschen ihr Leben verbringen.[11]  Gezeigt werden nur die Hüllen und oft auch nur die „Fassadenkosmetik“.[12] Der menschenleeren Architekturfotografie fehlt der Zusammenhang zwischen Fassade, Innenraum, Funktion und Arbeitsraum.

Dieser Effekt der sachlichen Fotografie war von den Architekten sicherlich willkommen, stellte er doch die fotografisch inszenierten Industriegebäude gleich mit ehrwürdigen Sakralbauten. Denn „Architektur-Aufnahmen sind dienende Bemühungen um Darstellung und Interpretation von Bauwerken,“ hatte Renger-Patzsch schon 1928 in seiner Publikation „Die Welt ist schön“ festgestellt.[13]

Die Bildkomposition von Albert Renger-Patzsch passte sich nahtlos in die Ordnungsvorstellungen der beiden Industriebaumeister Fritz Schupp und Martin Kremmer, den Architekten der in den 1930er Jahren neu errichteten Tagesanlagen des Erzbergwerkes Rammelsberg, ein. Die sachliche Formensprache der Architekten mit symmetrisch angeordneten Gebäudestrukturen fand ihre Entsprechung in den Fotografien Renger-Patzschs. Fotografie und Architektur wurden geleitet von einer Ordnungsstruktur, die eine Ansicht der Dinge komponieren will. Fritz Schupp und Martin Kremmer engagierten Renger-Patzsch deshalb wiederholt für die fotografische Dokumentation ihrer Bauprojekte, auch für Aufnahmen der Tagesanlagen des Erzbergwerkes Rammelsberg.[14]

Im Nationalsozialismus stellt Renger-Patzsch weiter aus, veröffentlichte Bücher und nahm zahlreiche Industrieaufträge an. „Renger-Patzsch wurde im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen und im Februar des folgenden Jahres freigestellt, vermutlich auf Betreiben seiner Auftraggeber aus der Industrie. Für die Organisation Todt fotografierte er 1943/44 den Atlantikwall in Frankreich. Er war kein NSDAP-Mitglied; in der letzten Wahl in der Weimarer Republik hatte er – so gab er es in seinem Entnazifizierungsbogen an – für die rechtsliberale DVP gestimmt. Es stellt sich die Frage, ob es seine Ästhetik der Zeitlosigkeit war, die es Renger-Patzsch ermöglichte, auch in den Jahren 1933 bis 1945 weiter fotografieren zu können, während andere Vertreter des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit – meist unter den Vorwürfen des `Kulturbolschewismus´ und der `Entartung´- Deutschland verlassen mussten.“[15]

„Der massive Ausschluss alles Zeitgenössischen – etwa Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Weltkrieg – in Renger-Patzschs Fotografien erzeugt eine Atmosphäre der Zeitenthobenheit, die den Wunsch und die Sehnsucht des Fotografen nach die Zeit überdauernden Werten eindrucksvoll visualisiert.“[16]  

Viele Aufnahmen Renger-Patzsch aus 1930er Jahren, wie auch die Rammelsberger Fotografien, wurden 1944 bei einem Brand seines Archivs zerstört. Fritz Schupp bat Renger-Patzsch deshalb in den 1950er erneut, Fotografien des Erzbergwerkes anzufertigen. Die Fotografien Albert Renger-Patzschs vom Erzbergwerk Rammelsberg, der Zinkhütte in Harlingerode und der Armerzaufbereitung am Bollrich sind ausschließlich in den 1950er  Jahren gemacht worden.

Die Nachkriegsfotografien von Renger-Patzsch sind gegenüber seinen Bildern aus den 1920 / 30er Jahren von einer stärkeren Systematik und zyklischen Arbeitsweise geprägt. Außerdem weicht er die starre Abgrenzung zwischen Fotografie und Kunst in den 1950er Jahren etwas auf und spricht von der Fotografie als ein grafisches Verfahren, dass sich zwischen Kunst und Handwerk bewege.[17]

Renger-Patzsch fotografierte Industriearchitektur im Auftrag der Unternehmen und insbesondere der Architekten. Einer der bekanntesten unter seinen Kunden war der Bauhausgründer Walter Gropius. Er sah Bilder des Fotografen vom Fagus-Werk, die dieser im Auftrag des Unternehmens gemacht hatte, und setzte diese später als Werbemittel in Publikationen ein, in denen er seine Bauten vorstellte. Fotografien von Gebäuden dienten den Architekten, die Sichtweise auf ihre Architektur zu steuern. Fritz Schupp und Martin Kremmer etablierten mit den Fotografien von Renger-Patzsch eine sachliche Sichtweise auf die Architektur von Zollverein in Essen und dem Erzbergwerk Rammelsberg in Goslar. Die Architekten kontrollierten die Herausgabe der Fotografien und  steuerten damit „eine angemessene fotografische Interpretation ihrer Bauten. (…) So konnten einzelne Aufnahmen von Bauten (…) zu Ikonen der Architekturfotografie werden und über Generationen die Wahrnehmung der betreffenden Architektur mitbestimmen.“[18]

Ähnlich verhält es sich mit einer Fotografie von Albert Renger-Patzsch, die zu den am meisten kopierten Aufnahmen in der der Fotosammlung der PREUSSAG, der ehemaligen Betreiberin des Erzbergwerkes Rammelsberg gehört. Die Gesamtansicht der Tagesanlagen von einem erhöhten Standpunkt auf dem westlich des Erzbergwerkes gelegenen Herzberg gilt als klassisch zu nennende Ansicht. Dieses Motiv hat in der Folgezeit die Werksfotografien der PREUSSAG wie ein roter Faden durchzogen.

Albert Renger Patzsch, Gesamtansicht der Tagesanlagen, 1950er Jahre. Archiv Ann und Jürgen Wilde 2019, Zülpich/VG Bild-Kunst
Peter Gauditz, Ausschnitt aus einer Gesamtansicht der Tagesanlagen,1974. Dauerleihgabe TUI-AG, Fotoarchiv Preußag, Sammlung Weltkulturerbe Rammelsberg.

In der neuen Sonderausstellung „Industriearchitektur der Moderne im Spiegel der Fotografie. Die Tagesanlagen des Weltkulturerbes Erzbergwerk Rammelsberg“ (23. Juni – 17. November 2019) zeigen wir bisher unbekannte Fotografien von Albert Renger Patzsch von den Gebäuden der Tagesanlagen aus den 1950er Jahren. 

Zur Sonderausstellung ist ein Katalog erschienen:
Symmetrie im Fokus. Die Tagesanlagen des Erzbergwerks Rammelsberg in den Fotografien von Albert Renger-Patzsch und Dieter Blase,  Hildesheim 2019, ISBN 978-3-929559-09-5.



[1] Rolf Sachsse, Bauvolumina und Schlagschatten. Moderne Industriearchitektur und Photographie. In: Wilhelm Busch und Thorsten Scheer (Hg.), Symmetrie und Symbol. Die Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer, Köln 2002, S. 195 – 204, S. 195.

[2] Vgl. Stefanie Grebe, Präzise, zeitlos und gegenstandsbezogen. Albert Renger-Patzschs fotografische Arbeiten im Ruhrgebiet. In: Stefanie Grebe, Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Renger-Patzsch. Die Ruhrgebietsfotografien, Köln 2018, S. 14 – 35, S. 22f.

[3] Grebe 2018, (wie Anm. 2), S. 26.

[4] Vgl. ebd., S. 26.

[5] Christoph Schaden, , „dasz ich oft zweifelhaft bin“ – Periphere Anmerkungen zu den Blicken der Sachlichkeit. In: Stiftung Zollverein (Hg.), Der Blick der Sachlichkeit. Zeche Zollverein im Spiegel der Fotografie. Essen 2016, S. 72 – 74, S. 73f.

[6] Zitiert nach: Andreas Rossmann, Das Wesen des Ruhrgebiets. Anmerkungen zu Albert Renger-Patzsch, dem Fotografen der Gegenstände. In: Stefanie Grebe, Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Renger-Patzsch. Die Ruhrgebietsfotografien, Köln 2018, S. 290 – 297, S. 294.

[7] Albert Renger-Patzsch, Ziele. In: das Deutsche Lichtbild, 1927. Zitiert bei: Reinhold Mißelbeck, Albert Renger-Patzsch. Photographische Photographie, In: Marianne Bieger, u.a. (Hg.) Albert Renger-Patzsch. Späte Industriephotographie, Köln 1993, S. 9 – 13, S. 9.

[8] Vgl. Reinhold Mißelbeck, Albert Renger-Patzsch – Photographische Photographie. In: Marianne Bieger, Florian Hufnagl und Reinhold Mißelbeck, Albert Renger-Patzsch. Späte Industriephotographie, Köln 1993, S. 9 – 13, S. 9.

[9] Marianne Bieger, Der Ingolstädter Auftrag. Bildfunktionen und Darstellungsmodi in den späten Industriephotographien von Alber Renger-Patzsch. In: Marianne Bieger, Florian Hufnagl und Reinhold Mißelbeck, Albert Renger-Patzsch. Späte Industriephotographie, Köln 1993, S. 25 – 36, S. 31.

[10]Vgl. Jörg Boström, Fabrikbau und fotografische Interpretation. In: Florian Böllhoff, Jörg Boström, Bernd Hey (Hg.), Industriearchitektur in Bielefeld. Geschichte und Fotografie, Bielefeld 1986, S. 182 – 191, S. 182.  

[11] Ebd., S. 187.  

[12] Ebd., S. 187.  

[13] Carl Georg Heise (Hg.), Die Welt ist schön. Einhundert photographische Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch, München 1928, S. 12. 

[14] Vgl. Thomas Dupke, Thomas Morlang, Kapiteltext „Zechen“. In: Stefanie Grebe, Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Renger-Patzsch. Die Ruhrgebietsfotografien, Köln 2018, S. 154.

[15] Grebe 2018,(wie Anm. 2), S. 18.

[16] Ebd., S. 32.

[17] Reinhold Mißelbeck, Albert Renger-Patzsch. Photographische Photographie, In: Marianne Bieger, u.a. (Hg.) Albert Renger-Patzsch. Späte Industriephotographie, Köln 1993, S. 9 – 13, S. 9.

[18] Michael Stöneberg, Wie kommt der Bau ins Blaue Buch ? Über den Prozess der fotografischen Architekturvermittlung. In: Claudia Quiring, Andreas Rothaus und Rainer Stamm, Neue Baukunst. Architektur der Moderne in Bild und Buch, Bielefeld 2013, S. 38 – 47, S. 44.

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