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„Wunsch und Wirklichkeit – Landschaft aus der Perspektive ihrer Nutzer“

Vorindustrielle Landschaft als geordneter Ertragsraum

Die Geschichte der Landschaft ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Verfügbarkeit über Ressourcen.

Dies meint zunächst die Erschließung und Ordnung von Raumstrukturen zur Ernährung und zum Erhalt der Existenz von Gruppen, sozialen Zusammenschlüssen oder ganzen Völkern.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war der Gebrauch der Landschaft durch eine so genannte Streunutzung geprägt. Die Übergänge zwischen Feld, Wald und Wiesen waren fließend, eine Mehrfachnutzung an der Tagesordnung.

Stundenbild März, Herzog von Berry, 1416

Diese, vom Naturraum stark abhängige Nutzung der Landschaft, führte zu einer diskontinuierlichen Versorgung mit Lebensmitteln, die im Besonderen in Hungerkrisen in der Zeit der Vorindustrialisierung mündeten. 

Die Agrarreformer des 19. Jahrhunderts trachteten diesen Umstand durch räumliche Zonierung in Funktionsbereiche zu überwinden und den Naturraum mit einem ökonomischen Blick zu versehen, alles getragen von dem Wunsch die Naturgewalten „in den Griff zu bekommen“ und dem menschlichen Nutzen unterzuordnen.

Rohstoffe und energetische Befreiung

Das so genannte erste Handwerk des Menschen, der Bergbau, führte zur Gewinnung zahlreicher Bodenschätze, die in ihrer verarbeiteten Form die Grundlage für einen weiteren ökonomischen und technologischen Wandel schufen.

Bildkarte Goslar und Rammelsberg, Matz Sincken, 1574

Dieser Prozess der Aneignung der in den tieferen Schichten des Naturraumes vorfindbaren Rohstoffe, war allerdings bis in das späte 19. Jahrhundert durch einen eklatanten Energiemangel charakterisiert.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Menschen im Wesentlichen auf die Energiekräfte von Sonne, Wind und Wasser angewiesen, die sie selbst als wenig berechenbar, also willkürlich empfanden.

Mit der Gewinnung fossiler Energieträger und im Besonderen mit der Möglichkeit diese in elektrischen Strom umzuwandeln, wurde dieser begrenzende Faktor aufgesprengt.

In einem rasenden Tempo wuchsen innerhalb weniger Jahrzehnte Städte und Industrieareale in den bisher agrarisch determinierten Raum herein.

Was folgte war eine komplexe Zonierung des Raumes, die in Konsequenz im planerischen Sinne Vorränge für die jeweiligen Nutzungsoptionen festlegte. Die einzelnen Funktionszonen wurden durch ein ausdifferenziertes Netz von Verkehrsinfrastrukturen miteinander verbunden.  

Damit wurde vermeintlich die Herrschaft des Menschen über den Raum realisiert und eine weitgehende Unabhängigkeit von den Kräften der Natur in Aussicht gestellt.

Wa(h)re Landschaft im Kopf des Menschen

Im Kontext der Industrialisierung wurden nicht nur die Bäume am Horizont durch Dampfschornsteine abgelöst, denen nur rund 100 Jahre später Windkraftanlagen folgen sollten, sondern die komplexe Ökonomisierung der Landschaft führte auch zur Homogenisierung von Insellagen.

Das heißt ortstypische Merkmale in Architektur, Sprache und Sozialverhalten verschwanden zunehmend und das Tempo des Umbaus führte für die Menschen der jeweiligen Zeit zu Problemen der Wahrnehmung.

Gerade dieser Prozess des „Verschwindens von Landschaft“ führte als Gegenbewegung zu einer Romantisierung derselben.

Bei der Begegnung zwischen den Generationen, offenbart sich das Großmutter und Enkel, den jeweils betrachteten Raum vollständig anders interpretierten, da die ältere Generation noch zahlreiche Spuren in der Landschaft lesen konnte, die der jüngeren in ihrer Existenz nicht wahrnehmbar war.

Die Dechiffrierung der Landschaft erfolgt nämlich nicht nach Regelwerken, sondern ist biografisch und gesellschaftlich determiniert. Sie erfolgt als eine „Sehfigur“, das heißt nur das Wissen um die Landschaft verbunden mit dem Prozess einer emotionalen Begegnung mit derselben, gewährt die Fähigkeit sie zu verstehen.

Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Wunsch und Wirklichkeit lassen sich nicht klar trennen, „denn die wahre Landschaft ist im Kopf des jeweils einzelnen.“

Neuer Mensch, Totalität und Reformversuche

Die im Kontext der Industrialisierung entstehende Massengesellschaft, verbunden mit der Durchstrukturierung des Raumes, Mobilität, Kommunikation und generellem Wertewandel, führte am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Aufkommen zahlreicher Reformbewegungen.

Die komplexe Rationalisierung aller Lebenszusammenhänge, soziale Verwerfung und die Angst vor der zunehmenden Negierung des Individuums im Zusammenhang mit der kapitalistischen Ökonomie erschuf eine weit verbreitete Sehnsucht nach Natürlichkeit als Grundlage der Lebensgestaltung.

Dabei war dem Menschen der Zeit bewusst, dass es kein Zurück zu einer ursprünglichen Natur mehr geben konnte, sondern nur den Weg zu einer, von ihm selbst geformten „kultürlichen“ Natur.

Südraum Leipzig um 1930

Die Reformbewegungen fokussierten sich in vier Schwerpunkten: In der Naturheilkunde als Gegenpol zur technischen Medizin und zu den Unzulänglichkeiten der Versorgung breiter Bevölkerungsschichten. Die Reformpädagogik, die das Kind in den Mittelpunkt stellt und dessen Unterordnung unter ökonomische Zwänge bekämpfen wollte, in die Licht-, Luft- und Sonnenbewegung, die eine neue Einheit von Natur und Körper propagierte sowie in die Siedlungs- und Gartenstadtbewegung, die ein neues Modell von Ökonomie und Leben propagierte.

Im Rahmen der Gartenstadtbewegung entstanden zum Beispiel zahlreiche Mustersiedlungen, die das Verhältnis zwischen Leben und Arbeiten verändern sollte, die Reformpädagogik schuf unter anderem eigene Schulsysteme, das heißt die Auswirkungen sind bis heute zu spüren.

Diese Versuche einer „anderen Kulturalisierung“ des Lebensraumes schufen die Potentiale und Erinnerungsmuster, die auch für heutige Menschen das Motiv zum Widerstand gegen eine komplex ökonomisierte Welt bieten.

Sie implizieren, dass der Wunsch zu einer Kulturalisierung des Naturraumes, keineswegs die Zerstörung desselben für andere Menschen innewohnt.

Ist immer Center Parks Wetter?

Die Versuche von Kulturalisierung von Freiräumen mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Erlebnisqualitäten, fanden zunächst mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs ihr Ende um dann, nach einer kurzen Blütezeit in den 1920er Jahren, erneut diktatorischen Handeln und Welteroberungsplänen zum Opfer zu fallen.

Nur wenige Gruppierungen knüpften an die „Befreiungsbewegung“ der Jahrhundertwende an, wobei sich allerdings beispielsweise die Architekturen des Bauhauses und die Ideen der Gartenstadtbewegung durchaus nach dem 2. Weltkrieg verbreiten konnten; dies allerdings befreit „von den Zwängen“ der Notwendigkeiten sich als Mensch zu verändern oder positiv gestaltend auf seine Lebensumwelt einzuwirken.

So entstand in der so genannten ersten Welt im Rahmen der Ökonomisierung der kulturellen Aneignung des Raumes eine neue Wertschöpfungsökonomie, die im Kontext von Erlebniswelten, Center Parks, Brandlands und Wellness-Oasen aus der „Befreiung von den Zwängen moderner Gesellschaften“ zunehmend monetären Nutzen schlug.

So vermochten die „bunten Welten des Billy Butlin“ in Großbritannien bis in die 1970er Jahre Millionen von Menschen „Ferien im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ nahe zu bringen. Unter abgehängten Gärten mit Pools und künstlichen Möwen donnerte alle 30 Minuten ein Tropengewitter während die Gäste gut geschützt hinter Doppelglasscheiben eine freien Blick auf die tobende Irische See hatten.

Die heutigen Center Parks befreien uns von den Unzulänglichkeiten des Strandes und klimatischen Rahmenbedingungen. So etwa der „Ocean Dom“ in Japan, der nur einige 100 Meter von einem kilometerlangen Sandstrand entfernt mitten im Jahrhunderte alten Küstenwald gelegen unter einer 300 Meter langen Kuppel bei einer konstanten Lufttemperatur von 30 Grad künstliche Wasserfälle, Ozeanwellen für Surfer und inszenierte Sonnenuntergänge präsentiert. Für mehr als eine Millionen Besucher im Jahr wird an warmen Sommertagen das riesige Dach für maximal eine Stunde geöffnet um die Sonnenbelastung für die menschliche Haut möglichst gering zu halten.

Der bemerkenswerte Wunsch des Menschen nach Natur mutiert hier zu einem künstlichen Paradies, oder um es vereinfacht zu sagen „was die Menschen vom Meer erwarten, finden sie nur im Pool.“

Dieser Beitrag soll unseren Gästen einen kleinen Vorgeschmack auf die Sonntags-Matinee am 28.4. geben. Dort wird Herr Gerhard Lenz M.A., Geschäftsführer und Museumsleiter des Weltkulturerbe Rammelsberg sowie Direktor der Stiftung Welterbe im Harz, zu diesem Thema referieren. Der Vortrag findet um 11 Uhr am Rammelsberg statt und ist kostenfrei.

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