Ich möchte in nächster Zeit im Blog in einer Reihe von Beiträgen einige Grundlagen der Sammlungsarbeit am Weltkulturerbe Rammelsberg vorstellen. Ich beginne mit der Idee „vom Objekt am authentischen Ort“. Diese Sammlungsvorgabe kommt ursprünglich aus der Archäologie und der Volkskunde und beschreibt die Tatsache, dass materielle Hinterlassenschaften vergangener Epochen im Zusammenhang mit der sie umgebenden Fundstelle und der komplexen Fundsituation betrachtet werden sollten. Deshalb gehen Archäologen und Volkskundler bei Objektfunden immer sehr behutsam und kleinschrittig vor, um möglichst alle Einflussfaktoren, die für die Geschichte des Fundes eine Rolle gespielt haben könnten, zu erfassen.
Für den Umgang mit Hinterlassenschaften der Industrie aus dem 19. bis 21. Jahrhundert ist dieser Grundsatz nicht neu, hat aber nach anfänglicher Euphorie in den 1970er Jahren im Zuge der „Industriearchäologiebewegung“ schnell an Bedeutung verloren. Die zeit- und kostenaufwendigen Vorgehensweisen der Archäologie bzw. der Volkskunde wurden bei der Behandlung industriegeschichtlicher Exponate zu Gunsten schneller Inventarisierung und oberflächlicher Dokumentation aufgegeben.
Das Weltkulturerbe Rammelsberg machte hier kaum eine Ausnahme. Die ausführliche Beschreibung eines Objektes, die Analyse der ursprünglichen Umgebung des Objektes, das als Exponat ins Museum überführt wird, so wie die Beschreibung der Metamorphose des Objektes zu einem Museumsexponat verlor im Zeichen intensiver Ausstellungsaktivitäten am Ende der 1990er Jahre und mit stark verringertem wissenschaftlichen Personalbestand zu Beginn des neuen Jahrtausends an Bedeutung. Damit wurden wichtige Informationen, die zum Verständnis der Objekte und ihrer Geschichte gehören, über Personen die sie nutzten oder sich mit ihnen umgaben, wie über die zeitgenössische Praxis im Umgang mit diesen Dingen, verloren.
Was bedeutet die Idee „vom Objekt am authentischen Ort“ konkret für die praktische Sammlungsarbeit am Weltkulturerbe Rammelsberg? Am Umgang mit einem Kleiderkorb aus der Jugendkaue des Weltkulturerbes Rammelsberg möchte ich einige der Überlegungen dazu vorstellen:
Jugendkaue mit Kleiderkörben unter der Decke
In der Jugendkaue des ehemaligen Erzbergwerkes Rammelsberg haben sich getrennt von den erwachsenen Bergleuten die Berglehrlinge geduscht und umgezogen.
Die Jugendkaue ist im Prinzip genauso aufgebaut wie die Waschkaue für die erwachsenen Bergleute, nur wesentlich kleiner. Abgetrennt von einem Duschraum gibt es in der Jugendkaue einen Umkleideraum, in dem die jugendlichen Bergmänner vor Arbeitsbeginn die Freizeitkleidung und nach Arbeitsende die Arbeitskleidung in Kleiderkörben hoch an die Decke zogen. Jeder jugendliche Bergmann besaß einen eigenen Kleiderkorb. Nach der Schließung des Erzbergwerkes Rammelsberg blieb ein Großteil der Kleiderkörbe in der Jugendkaue so hängen, wie sie am Schließungstag gehangen haben.
Mit der originalen Hängung der Kleiderkörbe sollte natürlich der authentische Charakter des Raumes erhalten bleiben. Doch es ist nicht allein der Erhalt dieser originalen Kulisse, die trotz nicht optimaler konservatorischer Bedingungen dazu geführt hat, das Objekt, also die Kleiderkörbe am authentischen Ort zu belassen. Denn nur die Verbindung von Ort und Kleiderkorb stellen den individuellen Bezug zum Menschen, der in diesem Korb seine Kleidung und seine Waschutensilien und andere Dinge untergebracht hat, richtig her. Die Position des Korbes im Raum kann auf hierarchische Strukturen bei der Vergabe der Plätze von Kleiderkörben unter den jugendlichen Bergmännern hinweisen oder individuelle Vorgaben bei der Wahl des Umkleidungsortes belegen.
Wie sieht die Umgebung unterhalb des Korbes aus? Gibt es dort Trittspuren oder Benutzungsspuren an der Wand oder an den Sitzbänken unter den Kleiderkörben? Welche Benutzungsspuren hat die Kette, an der ein Korb hochgezogen und herabgelassen wurde?
Abgehängter Kleiderkorb aus der Jugendkaue
Diese Fragen verdeutlichen bereits, welche Spuren verloren gehen, wenn der Korb abgehängt und aus seiner authentischen Umgebung genommen wird, so wie es vor einigen Tagen aus Sicherheitsgründen passiert ist. Einige Seile, an denen die Körbe hingen, waren brüchig geworden und drohten zu reißen. Wir mussten deshalb vorübergehend einige Kleiderkörbe aus der Jugendkaue abnehmen. Eine Dokumentation der Position und des umgebenden Ortes der abgenommenen Kleiderkörbe unter den genannten Fragestellungen ist unerlässlich, kann aber den Verbleib des Objektes am authentischen Ort nicht ersetzen.
Für die Jugendkaue kann bei guter Dokumentation auch nach Abnahme der Kleiderkörbe schnell die ursprüngliche Situation wieder hergestellt werden. Ein großer Teil der abgenommen Kleiderkörbe wurde in den letzten Tagen mit neuen Zugseilen versehen wieder aufgehängt. Zwei der Körbe aber blieben am Boden. Sie wurden mit entsprechender Dokumentation im Depot eingelagert. Eine Kompromisslösung, die bei der Auseinandersetzung zwischen authentischer Wiederherstellung und musealer Nutzung häufig gewählt wird. Doch damit bin ich schon bei einem weiteren grundsätzlichen Thema aus dem Bereich Sammlung, welches ich in der Fortsetzung dieser Reihe aufgreifen werde.
[…] Blogbeitrag vom 22. August 2014 habe ich die Auseinandersetzung zwischen authentischer Wiederherstellung und musealer Nutzung als […]